20.11.2015

Das Trauma kommt, wenn die Sicherheit trügt

Der Psychiater und medizinische Psychotherapeut Dr. Hans Wolfgang Gierlichs (l.) und der Psychologe Dr. Ibrahim Özkan arbeiten seit vielen Jahren mit Flüchtlingen und Asylbewerbern. Ihr Rat ist zurzeit sehr gefragt, auch bei der Fachtagung des Caritasverbandes Paderborn.Foto: Karl-Martin Flüter

Der Migrationsfachdienst des Caritasverbandes Paderborn hatte zu einer Fachtagung über postraumatische Belastungsstörungen bei Flüchtlingen geladen. Zwei Experten, der Psychiater Dr. Hans Wolfgang Gierlichs und der Psychologe Dr. Ibrahim Özkan, informierten über Symptome und Therapiemöglichkeiten. Mit Dr. Özkan haben wir gesprochen, er ist leitender Psychologen im Schwerpunkt Kulturen, Migration und psychische Krankheiten/Psychoonkologie der Asklepios-Fachklinik Göttingen.

Der Migrationsfachdienst des Caritasverbandes Paderborn hatte zu einer Fachtagung über postraumatische Belastungsstörungen bei Flüchtlingen geladen. Zwei Experten, der Psychiater Dr. Hans Wolfgang Gierlichs und der Psychologe Dr. Ibrahim Özkan, informierten über Symptome und Therapiemöglichkeiten. Mit Dr. Özkan haben wir gesprochen, er ist leitender Psychologen im Schwerpunkt Kulturen, Migration und psychische Krankheiten/Psychoonkologie der Asklepios-Fachklinik Göttingen.

Viele der Flüchtlinge, die bei uns ankommen, sind traumatisiert: von Krieg, Verfolgung und gefährlicher Flucht. Das könnte allein in diesem Jahr bedeuten, dass mehrere hunderttausend Menschen psychische Hilfe und Unterstützung brauchen. Kommt da ein riesiges Gesundheitsproblem auf den Staat zu?

Dr. Ibrahim Özkan: Nein. Ein großer Anteil der betroffenen Menschen kann sich selbst „recovern“ und sich selber helfen, wenn sie sich sicher fühlen. Die große Herausforderung kommt auf uns zu, wenn keine angemessene Versorgung stattfindet und die Flüchtlinge nicht die Sicherheit vorfinden, die sie brauchen.

Aus Sorge vor einer Überforderung verschärfen Politiker die Bedingungen für Flüchtlinge. Kann unter diesen Umständen ein Gefühl der Sicherheit entstehen?

Wenn alle zuerst „willkommen“ sagen, wenn die Flüchtlinge kommen – und dann die Stimmung einige Wochen später kippt, dann ist das bestimmt keine gute Voraussetzung für ein sicheres Lebensgefühl. Wenn jemand die Hilfen angenommen hat, die ihm angeboten wurden, und jetzt hört, dass er in das Krisengebiet, aus dem er kommt, zurückgehen soll, dann kann von Sicherheit keine Rede sein.

Erst in dieser Situation tritt das Trauma zutage, das lange Zeit unterschwellig wirkte, weil es von der Hoffnung auf ein besseres Leben und einer vermeintlichen Sicherheit in Schach gehalten wurde.

Wie kann in der gegenwärtigen chaotischen Situation psychotherapeutische Arbeit überhaupt stattfinden?

Diese Arbeit kann zurzeit nur unterstützend und stabilisierend stattfinden. Noch sind die meisten Flüchtlinge nicht richtig angekommen. Erst wenn sie sich in ihrer neuen Umgebung eingerichtet haben, eine Wohnung beziehen, ein wenig zur Ruhe kommen, wird es möglich sein, die Symp­tome einer Posttraumatischen Belastungsstörung von den unmittelbaren Begleitumständen und Belastungen der Flucht zu trennen.

Sicherheit und Stabilität brauchen Kommunikation und Miteinander. Wie kann die Verständigung angesichts vieler sprachlicher und kultureller Barrieren gelingen?

Es geht um Menschen. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen. Menschen, die ohne Grund nicht ihre Heimat verlassen hätten, um hier mittellos zu leben und ganz neu anzufangen. Zu helfen ist eine Pflicht.

Dass unsere Gesellschaft diese Menschen braucht, ist klar. Da reicht ein Blick auf die demografischen Tatsachen unserer älter werdenden Gesellschaft. Zum Zusammenleben brauchen wir eine wirklich multikulturelle Gesellschaft, die jedem seine Identität und seine kulturellen Bezüge belässt. Es geht nicht um Assimilation, also um Angleichung, bei der die Neuankömmlinge ihre Identität aufgeben müssen. In den USA ist man beispielsweise längst abgerückt von der Idee des „Melting pot“ – des „Schmelztiegels“ – hin zu der Idee, Integration sei eher mit einer „salad bowl“ vergleichbar, einer Salatschüssel, in der alle Zutaten noch erkennbar sind.

Was bedeutet der Begriff „sekundäre Traumatisierung“ für die Flüchtlingshelfer?

Zwischenmenschlichkeit braucht Psychohygiene. Sie muss gepflegt werden. Man muss sich über seine individuelle Belastung mit anderen austauschen können. Deshalb ist ein Unterstützungssystem für Helfer wichtig.

Interview: Karl-Martin Flüter

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