24.03.2016

Selbstbestimmungsrecht oder Fürsorgepflicht?

Stellte die neue Empfehlung vor: der Diözesane Ethikrat im Erzbistum Paderborn. Foto: cpd/Jonas

Paderborn. Eine Altenheimbewohnerin verweigert häufig Essen und Trinken. Angehörige versuchen, es ihr einzuflößen – gegen den Willen der Frau. Sprechen kann sie zwar nicht mehr, doch sie dreht den Kopf zur Seite und schlägt mit dem Arm Löffel und Teller weg. Die Mitarbeiter belastet die versuchte Zwangsernährung. Welche Lösung gibt es? Bei der Antwortsuche kann nach einer neuen Empfehlung des Diözesanen Ethikrates im Erzbistum Paderborn eine ethische Fallbesprechung helfen.

„Das integrative Modell ethischer Fallbesprechung“ lautet der Titel der Empfehlung. Seit 2009 hat der Ethikrat das nun veröffentlichte integrative Modell zur Durchführung ethischer Fallbesprechungen in karitativen Einrichtungen unter Berücksichtigung schon bestehender Modelle selbst entwickelt und mit einigen Einrichtungen praktisch erprobt.

„In den letzten Jahren ist die Zahl moralisch schwieriger, konfliktreicher und belastender Entscheidungen aus verschiedenen Gründen deutlich gewachsen“, heißt es in der Erklärung des Ethikrates. In Fallbesprechungen, die bisher vor allem in Kliniken und Pflegeeinrichtungen durchgeführt wurden, sei es möglich, in moralischen Konfliktsituationen in einem strukturierten Verfahren das moralische Dilemma zu analysieren, die einschlägigen Werte zu ordnen und zu einer Empfehlung für das weitere Handeln zu kommen.

So auch im Fall der Altenheimbewohnerin, wo deren Selbstbestimmungsrecht gegen die Fürsorgepflicht und den Wunsch der Angehörigen nach Schadensvermeidung stand. Nach einer Analyse und Gesprächen akzeptierten die Angehörigen das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Mehrmals täglich wurde ihr ohne Druck Nahrung angeboten und versucht, ihren Geschmack zu stimulieren. „Das integrative Modell ethischer Fallbesprechung“ wurde vom Diözesanen Ethikrat unter Federführung seines Mitglieds, des Tübinger Moraltheologen und Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Franz-Josef Bormann, entwickelt.

Andere Modelle für die Durchführung ethischer Fallbesprechungen hatten sich als nicht gänzlich praktikabel für kirchliche Einrichtungen erwiesen. „Das neue Modell darf als eine Art ,Best-of der derzeitigen Modelle gelten, das deren Einschränkungen jedoch überwindet und auf die Belange kirchlicher Krankenhäuser und Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe hin zugeschnitten worden ist“, sagt Dr. Ulrich Dickmann von der Katholischen Akademie Schwerte. In einem Zeit­rahmen von 45 bis 60 Minuten könne die Frage beantwortet werden, welcher moralische Aspekt Vorrang habe. Dieser Zeitaufwand lohne sich dank einer nachweisbaren Verbesserung der Mitarbeiterzufriedenheit auch ökonomisch.

Voraussetzung für die Durchführung ethischer Fallbesprechungen ist die Begleitung von Moderatoren. Um die Einführung des Modells zu erleichtern, bieten Ethikrat und Akademie Schulungen an.

Der Ethikrat hoffe, dass das Modell sowie die mit ihm einhergehende Reflexionskultur positiv zum Profil karitativer Einrichtungen beitragen und ihren Patienten und Bewohnern zugutekomme, sagte der Vorsitzende des Ethikrates, Dr. Horst Luckhaupt, Chefarzt der HNO-Klinik im St.-Johannes-Hospital in Dortmund.

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