15.11.2018

Kirche ist mehr als Skandal

Auch die Arbeit der Frauenhilfsorganisation SOLWODI unterstützt das Bonifaituswerk. In der Berliner Anlaufstelle wird eine Projektstelle finanziert. Das Foto entstand bei einem Gespräch von Schwester „Mabel“ Beatrice Mariotti mit Peace, einer Westafrikanerin, die nach ihrer Flucht zur Prostitution gezwungen worden ist. Foto: Markus Nowak

Kleines Foto: Msgr. Georg Austen, Generalsekretär des Bonifatiuswerks der deuschen Katholiken

Die katholische Kirche begeht am 18. November den Diaspora-­Sonntag mit der bundesweiten Sammlung für die Diasporagebiete. Der Generalsekretär des Bonifatiuswerkes, Monsignore Georg Austen, nimmt im Interview Stellung zur aktuellen Situation der Kirche, nicht nur in der Diaspora.

Monsignore Austen, Diaspora heißt, als Minderheit in einer Mehrheit Anders- oder Nichtglaubender zu leben. Gelangen wir durch die aktuelle Krise der Kirche immer mehr in eine Minderheitensituation?

Es stimmt, dass der Vertrauensverlust durch den Missbrauchsskandal die Kirche massiv erschüttert. Immer mehr Menschen, die der Kirche verbunden sind oder waren, verabschieden sich. Es ist für uns eine große Herausforderung und Notwendigkeit, dass Kirche sich erneuert und verändert. Auf allen Ebenen sind wir herausgefordert, glaubwürdig, authentisch und wahrnehmbar unseren Glauben zu bezeugen.

Aber ich erlebe ebenso, dass Kirche mehr ist als Skandal, und genau das wollen wir auch deutlich machen. Ich sehe das große Engagement von Hauptberuflichen und Ehrenamtlichen, die Zeugnis geben vom Gott Jesu Christi, die Anregungen geben, nach Gott zu fragen und seine Spuren in unserer Welt zu entdecken, die Räume und Zeiten anbieten, Gott zu begegnen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. All das lässt vertrauen, dass unsere Kirche auch weiterhin die Kraft hat, zu einer christlichen Prägung der Gesellschaft beizutragen.Ist es ein Fokus Ihrer Arbeit als Glaubenswerk, dieses Engagement der Menschen zu unterstützen und ihnen Hilfen an die Hand zu geben?

Als Hilfswerk für den Glauben helfen wir einerseits, dass unsere Glaubensbrüder und -schwestern in Minderheits­situationen Glaubensgemeinschaft erfahren. Zum anderen wollen wir dazu beitragen, dass Menschen, die „religiös unmusikalisch“ sind oder denen der Glaube fremd geworden ist, etwas über Inhalte unseres Glaubens erfahren können. Dazu gibt es zahlreiche Initiativen, Projekte und Materialien, die durch das Bonifatiuswerk unterstützt oder entwickelt werden.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Zum Beispiel unsere Erstkommunion- und Firminitiative, sie gibt Gemeinden Unterstützung, Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg des Hineinwachsens in den Glauben zu begleiten. Unsere Reihe „Kirche im Kleinen“ versucht, auf leicht zugängliche und inte­ressante Weise Inhalte des Glaubens zu vermitteln. Wir haben im vergangenen Jahr über 800 Projekte in Nord- und Ostdeutschland, in Nordeuropa und im Baltikum gefördert und unter anderem zwei Millionen Euro für Projekte der Kinder- und Jugendhilfe aufgewandt.

Sie selbst kennen die Situation der Kirche in den nordischen und baltischen Ländern gut. Kann die Kirche in Deutschland von den Katholiken in den Diasporagebieten etwas lernen?

Wir können viel von den Menschen in unseren Fördergebieten lernen, ohne jedoch die dortigen Probleme zu verschweigen. Was mich immer wieder fasziniert, ist die junge, lebendige, internationale Kirche in den nordischen und baltischen Ländern. Die Teilnahme am Gottesdienst ist ihnen trotz großer Entfernung wichtig. Obwohl die Katholiken in der Diaspora mit wenig finanziellen Mitteln auskommen müssen, lassen sie trotz widriger Umstände eine Gestalt von Kirche lebendig werden, die mehr und mehr in die säkulare Gesellschaft hi­neinwirkt. Auch von ihrer Herzlichkeit und Gastfreundschaft können wir lernen. Am meisten beeindruckt mich, dass die Kirche sich in diesen Ländern in einem Aufbruch befindet und sich geistlich getragen weiß. Davon können wir in unseren oft schwierigen Situationen sicherlich lernen.

Haben es die Katholiken dort leichter als hier in Deutschland?

Nein, vieles verbindet uns in den europäischen Ländern. Überall ist eine wachsende Entchristlichung der Gesellschaft zu spüren, in der die Frage nach Gott eine immer geringere Rolle spielt. Die Katholiken im Norden haben es vielleicht in der Hinsicht leichter, dass sie weniger Ballast mittragen müssen.

Was meinen Sie mit „Ballast“?

Wir stehen vor vielen Strukturreformen der Kirche. Es geht dabei auch um die Frage, wo wir uns umorientieren müssen. Denn wir haben uns in Deutschland und Europa auf die veränderte Situation in Kirche und Gesellschaft einzustellen, die beide durch die Migranten und Flüchtlinge internationaler und bunter werden. Es geht darum, wo wir von manchem Ballast an lieb gewordenen Gewohnheiten und Anschauungen Abschied nehmen müssen. Und wir müssen auf die Stimme des Heiligen Geistes hören, um zu erkennen, welche neuen Wege er uns zeigen will. Ebenso ist es höchste Zeit, die wirklichen und existenziellen Fragen der Menschen von heute mehr wahrzunehmen und durch Ehrlichkeit, Transparenz und gelebte Nächstenliebe den Blick auf das Evangelium nicht zu verdunkeln.

Auf die veränderte Situation sind Sie in den letzten drei Jahren eingegangen mit den Leitworten der Diaspora-­Aktion des Bonifatiuswerkes. 2016 hieß das Leitwort „Unsere Identität: Barmherzigkeit“, 2017 „Unsere Identität: Segen sein“ und dieses Jahr „Unsere Identität: Christus bezeugen“. Was bedeuten diese Aspekte der christlichen Identität?

Ohne Barmherzigkeit gibt es kein Christsein. Es ist Grundkern der christlichen Botschaft, anderen Menschen barmherzig zu begegnen und barmherzig zu wirken. Wir sind Gesegnete von Gott und sollen auch selbst ein Segen sein. Wir können segensreich in die Welt hinein wirken, und die Menschen spüren lassen, dass der Glaube auch für sie persönlich ein Segen ist. Aber Glaube kann nur in Gemeinschaft gelebt werden. Und das geht nur, wenn er von Menschen bezeugt wird, die wahr und wahrhaftig leben, was sie glauben: durch ihr Reden, Handeln und Beten.

Ist es heute angesichts der Vertrauenskrise in der katholischen Kirche schwieriger, den Glauben zu bezeugen, oder ist es eher eine Chance?

Natürlich wird es schwieriger, weil wir angefragt und angeklagt werden und weil Missstände und Verbrechen Gott sei Dank aufgedeckt wurden. Aber ich sehe gleichzeitig auch eine Chance darin, dass wir mit den Menschen, mit denen wir in der Kirche unterwegs sind, und mit Impulsen von außen suchen, wie wir das Evangelium heute leben können, gerade auch in Diasporasituationen, in denen die Rahmenbedingungen noch schwieriger sind.

Sie erwähnen die Nöte der Welt von heute. In Deutschland begeht die katholische Kirche am dritten Sonntag im November den Diaspora-­Sonntag mit der bundesweiten Sammlung für die Diasporagebiete. Der Papst hat diesen Sonntag zum Welttag der Armen ausgerufen. Diese beiden Gedenken am gleichen Tag scheinen für Sie gut miteinander vereinbar zu sein. Können Sie uns dazu ein Beispiel nennen?

Wenn Menschen durch die Diaspora-Aktion Solidarität und finanzielle Hilfe erfahren, verlieren wir die Option für die Armen, für die, die am Rand stehen, nicht aus dem Blick. Ich bin den Spendern und allen in der Diaspora Engagierten sehr dankbar, dass sie ein konkretes Glaubens­zeugnis geben. Sie sind für Kranke im Hospizdienst da, bauen Suppenküchen auf, bieten Jugendlichen in sozial prekären Situationen Lebensperspektiven an. Diese Beispiele und viele andere finde ich in den von uns unterstützten Projekten. Sie machen deutlich, wo heute unser Auftrag als Christen liegt.

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